Jahresbericht 2016 der Landesbeauftragten

Jahresbericht 2016

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Ein politisch turbulentes Jahr 2016 liegt hinter uns und das politische Jahr 2017 hat mit einem Paukenschlag begonnen: dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das ein generelles NPD-Verbot abgelehnt hat. Wir werden sehen, welche Auswirkungen das auf die rechtsradikale und ausländerfeindliche Szene haben wird.

Dennoch möchte ich zu Jahresbeginn die Gelegenheit zu einem kurzen Rückblick auf das vergangene Jahr nutzen und von meiner ehrenamtlichen Arbeit als Niedersächsische Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe berichten.

Der politische und gesellschaftliche Kontext

Das Zusammenleben unserer Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen, ob lange schon einheimisch oder gerade zugezogen, ist stets geprägt von den Entwicklungen und Ereignissen, die um uns herum geschehen, auf internationaler wie auf Bundesebene. Innen- und Außenpolitik sind keine getrennten Sphären mehr. Das haben wir in 2016 besonders deutlich gespürt: Der Krieg in Syrien hat bisher mehr als 4,8 Millionen Menschen zur Flucht gezwungen, fast die Hälfte von ihnen sind nicht einmal 18 Jahre alt. Das am 18. März 2016 zwischen der EU und der Türkei geschlossene Abkommen hat die Zugangszahlen geflüchteter Menschen nach Deutschland zwar stark verringert. Dennoch müssen wir uns der Tatsache bewusst sein, dass laut UNHCR in 2016 rund 360.000 Menschen den gefährlichen Weg über das Mittelmeer nach Europa auf sich genommen haben und für mehr als 5.000 von ihnen die Reise tödlich endete. Das vergangene Jahr war damit das in dieser Hinsicht tödlichste, wie das UN-Flüchtlingshilfswerk berichtete. Und die Tragödie im Mittelmeer nimmt kein Ende; in 2017 sind bereits 254 Tote und Verletzte registriert worden.

Auf europäischer Ebene gibt es derweil noch immer kein effektives, gerechtes neues Asylsystem, auf das sich die EU-Mitglieder verständigen könnten. In Berlin hat die Bundesregierung das so genannte Integrationsgesetz verabschiedet, um die Eingliederung geflüchteter Zuwanderer in die Gesellschaft voranzutreiben. Menschen mit einer „geringen Bleibeperspektive“ sehen sich mittel- oder unmittelbar veranlasst, in ihre Heimatländer zurückzukehren. Unterdessen hat die gesellschaftliche Polarisierung weiter zugenommen, werden Ängste vor „Fremden“ auch von politischer Seite geschürt, grassiert der rechte Populismus. Und während die Zahl rechter Straftaten, auch gegen Geflüchtete in Niedersachsen, in erschreckendem Maße zugenommen hat, kümmern sich doch weiterhin Millionen von Menschen wie eh und je um andere und sorgen mit ihrem freiwilligen Dienst am Gemeinwohl für eine lebendige und offene Zivilgesellschaft.

Integration geflüchteter Menschen als Themenschwerpunkt

In all diese komplexen Zusammenhänge ist natürlich auch meine Arbeit als Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe eingebettet. Dieses Amt nehme ich seit 2013 ehrenamtlich und von der Landesregierung unabhängig als Fürsprecherin aller in Niedersachsen lebenden Menschen mit einer so genannten Zuwanderungsgeschichte wahr; von den Aussiedlern und Spätaussiedlern über die ehemaligen so genannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter aus der Türkei oder Griechenland, aus Italien, Spanien oder dem ehemaligen Jugoslawien bis hin zu den geflüchteten Menschen aus Syrien, dem Irak oder Eritrea. Dass ihre Interessen in Politik und Gesellschaft berücksichtigt werden und ihre wirtschaftliche, soziale, rechtliche und gesellschaftliche Integration gewährleistet wird und bleibt, ist Kernziel meiner Arbeit. Und diese gestaltete sich mit insgesamt rund 260 Terminen aller Art auch im Jahr 2016 überaus vielfältig.

Die Integration geflüchteter Zuwanderer markiert eine der größten politischen Querschnittsaufgaben der niedersächsischen Landespolitik in jüngster Zeit. Bildung, Arbeit, Freizeit, Wohnen, Politik, Religionsausübung und gesellschaftliche Teilhabe: All diese Handlungsfelder der Integrationspolitik spiegeln sich natürlich auch in meiner Arbeit wider. Dabei bildete die Arbeitsmarktintegration einen besonderen Themenschwerpunkt. In zahlreichen Gesprächen und Konferenzen habe ich mich darum bemüht, Unternehmen oder Projektträger, die Geflüchtete zügig in Arbeit bringen möchten, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Landesregierung im Bereich der Wirtschaftsförderung und den regionalen Entscheidungsträgern der Bundesagentur für Arbeit zusammenzubringen.

Auch zu diesem Zwecke lud ich am 28. November gemeinsam mit der Niedersächsischen Kultusministerin sowie der Niedersächsischen Wissenschaftsministerin zum mittlerweile dritten Mal zu den „Schwanenburger Gesprächen“ ein. Mit Fachleuten aus unterschiedlichen Bereichen und Unternehmen wurden dabei die Herausforderungen junger Geflüchteter diskutiert, Sprachbarrieren auf dem Weg in den hiesigen Arbeitsmarkt zu überwinden. Diesem Thema widmete sich auch das Bündnis „Niedersachsen packt an“ in zahlreichen Veranstaltungen und Konferenzen, an denen ich mitwirkte. Zu erwähnen sind hier vor allem die Integrationskonferenzen in Hannover am 7. Juni und am 29. August sowie die im Forum Peine am 2. September. „Integration durch Arbeit“ war ferner bei den Treffen der Integrationsbeauftragten in Dresden am 18.-19. April und 4.-5. November ein Thema von herausgehobenem Stellenwert.

Spracherwerb fördern

Sprachkenntnisse sind bekanntlich der Schlüssel zur Integration und Beteiligung am Leben in Deutschland. Deshalb stellte die Sprachförderung ein weiteres Hauptaugenmerk meines Engagements dar. Zu nennen sei hier etwa das Pilotprojekt „Musik, Sprache, Teilhabe“, das ich zusammen mit Kultusministerin Frauke Heiligenstadt und der stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Bertelsmann Stiftung, Liz Mohn, am 4. Februar bei einem Besuch in der Erstaufnahmeeinrichtung des Grenzdurchgangslagers Friedland vorstellte. Ziel des Projektes ist es, den Spracherwerb von Flüchtlingskindern über das Medium Musik zu fördern.

Viele weitere Angebote zur sprachlichen Integration (z.B. der TUI-Stiftung und der Deutschlandstiftung Integration) sind in diesem Jahr in Niedersachsen entstanden. Ich unterstütze sie gerne. Das vom Niedersächsischen Sozialministerium und dem interkulturellen Verein Can Arkadas herausgegebene „Sprach- und Integrationsbuch“ ist ein praktischer Begleiter für alle Lebenslagen auf Deutsch und Arabisch. Das Buch ist eines von vielen niedrigschwelligen Integrationsprojekten, die von der Lotto-Sport-Stiftung gefördert werden. Deshalb freue ich mich auch besonders, als Mitglied im Stiftungsrat die wichtige Arbeit der Stiftung mitgestalten zu können.

„Musik, Sprache, Teilhabe“: Vorstellung eines Pilotprojekts durch Niedersachsens Kultusministerin Frauke Heiligenstadt, die stv. Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann-Stiftung Liz Mohn und Doris Schröder-Köpf bei einem Besuch in der Erstaufnahmeeinrichtung des Grenzdurchgangslagers Friedland am 4.2.2016.

 Würdigung der Ehrenamtlichen

Immer wieder bin ich von der Vielfalt des ehrenamtlichen Engagements in Niedersachsen beeindruckt. Sie ist eine wahre Stütze unserer Gesellschaft. Und so war es mir ein besonderes Anliegen, auf die große Bedeutung des Ehrenamtes für unser Gemeinwesen aufmerksam zu machen, den freiwilligen Helferinnen und Helfern mit Unterstützung zur Seite zu stehen (siehe etwa den „Ratgeber für Ehrenamtliche“ aus 2015) und ihnen dankende Anerkennung zu zollen – ob beim Niedersächsischen Integrationspreis, der Aktionswoche von „Niedersachsen packt an“, im Rahmen von Schirmherrschaften wie z.B. die über den TakeOff-Award in Berlin oder bei Besuchen von Flüchtlingseinrichtungen wie in Oldenburg-Etzhorn.

Praktische Angebote: Liederfibel, Interreligiöser Kalender und vieles mehr

Erwähnen möchte ich schließlich auch die zahlreichen praktischen Angebote, die ich zusammen mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Niedersächsischen Staatskanzlei für Geflüchtete und ihre ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer erarbeitet habe: Auch in diesem Jahr gibt ein Interreligiöser Kalender einen praktischen Überblick über religiöse Fest- und Feiertage in Niedersachsen. Die Liederfibel richtet sich als Lieder-, Mal- und Freundebuch an geflüchtete Kinder und soll ihnen den Zugang zur deutschen Sprache erleichtern. Auch der von WhiteIT e.V. herausgegebene Ratgeber „Ankommen – so geht Deutschland“ setzt den Fokus auf die Rechte unserer Jüngsten und beantwortet auf zwanzig Seiten die Fragen von zwei fiktiven Flüchtlingskindern.

Enger Austausch mit Spätaussiedlern und Heimatvertriebenen

Zahlreiche Gesprächstermine in 2016 galten den Belangen der Spätaussiedler und Vertriebenen sowie der polnisch-stämmigen Bürgerinnen und Bürger und Polinnen und Polen in Niedersachsen. Auch für sie bin ich als Ansprechpartnerin zuständig und fühle mich ihnen eng verbunden. Als solche bin ich am 24. September zur Verleihung des 40. Kulturpreises Schlesien nach Breslau gereist. Am 30. September hatte ich die Ehre, im Neuen Rathaus Hannover die Festrede anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Deutsch-Polnischen Nachbarschaftsvertrages zu halten.

Im Dialog mit den polnischen Vereinen und Verbänden, die vorbildliche ehrenamtliche Arbeit leisten, war das Thema Sprache bzw. muttersprachlicher Unterricht an den Schulen von besonderem Stellenwert. Und mit der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (Landesgruppe Niedersachsen) hat es in 2016 schöne Anlässe der Begegnung und des offenen Gedankenaustauschs gegeben. Sei es im Grenzdurchgangslager Friedland, in Hannover oder an anderen Orten in Niedersachsen. Durch die große Leistungsbereitschaft haben sich viele Russlanddeutsche bei uns eine Existenz und neue Heimat aufgebaut. Dazu haben auch die Aktivitäten der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland nachhaltig beigetragen. Dafür können wir in Niedersachsen nur dankbar sein!

Einweihung des Museums Friedland am 18. März 2016

Friedland als Symbol für das Einwanderungsland Deutschland

Kaum ein Ort in Niedersachsen, ja in der gesamten Bundesrepublik, spiegelt das Einwanderungsland Deutschland so deutlich wider wie Friedland. Denn hier, am Südzipfel unseres Bundeslandes, begann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für Millionen von Menschen ein neues Leben. An diese Geschichte erinnert seit 2016 das Museum Friedland. Ein einzigartiges Projekt, auf das wir in Niedersachsen über alle Parteigrenzen hinweg stolz sein können, weil es sich – bundesweit einmalig – explizit dem Themenkomplex Flucht, Vertreibung, Migration und Integration widmet. So war es für mich eines der Highlights in diesem Jahr, mit Ministerpräsident Stephan Weil, Innenminister Boris Pistorius und Landtagspräsident Bernd Busemann bei der festlichen Museumseröffnung am 18. März im historischen Bahnhofsgebäude unter dem Motto „Abschied, Ankunft, Neubeginn“ dabei gewesen zu sein.

Dialog einfordern – Was ist unser Leitbild?

Die zentrale Frage, für das Jahr 2017 und darüber hinaus, bleibt für mich: Wie wollen wir unser Leben im Einwanderungsland Deutschland gestalten? Was ist uns wichtig und was hält uns als plurale und offene Gesellschaft zusammen? Dringender denn je müssen wir über diese und weitere Identitätsfragen einen umfassenden und aufrichtigen Dialog führen. Gerade in Zeiten, in denen die Diskussionskultur zunehmend zum Schlagabtausch emotionsgeladener Freund-Feind-Rhetoriken zu verkommen droht, ist mir dies ein ganz persönliches Anliegen. Deshalb habe ich unter dem Titel „Gesellschaft im Wandel – was verändert Zuwanderung?“ gemeinsam mit dem Bevollmächtigten des Landes Niedersachsen beim Bund, Staatssekretär Michael Rüter, eine Diskussionsveranstaltung am 7. März in Berlin durchgeführt. Wie bereichernd und „normal“ Einwanderung ist, wurde auch beim Regionalkongress der Neuen Deutschen Organisationen (NDO) am 2. Dezember in Hannover deutlich, zu dem ich gemeinsam mit den NDO und Staatsministerin Aydan Özoğuz eingeladen hatte. Dieses Themenkomplexes rund um die Zukunft unseres Einwanderungslandes werde ich mich auch in diesem Jahr mit einer eigenen Veranstaltung annehmen.

„Gesellschaft im Wandel – was verändert Zuwanderung?“ zu diesem Thema hatten am Dienstag, 07. März 2016, die Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe, Doris Schröder- Köpf, und der Bevollmächtigte des Landes Niedersachsen beim Bund, Staatssekretär Micha-el Rüter, in die Landesvertretung nach Berlin geladen.

Ausblick

Die Prognose scheint gewiss nicht allzu weit hergeholt, dass die meisten Herausforderungen, die uns in Niedersachsen im vergangenen Jahr begegnet sind, uns auch in 2017 beschäftigen werden – gesellschaftlich wie politisch. An oberster Stelle steht hier die Aufgabe, jene Menschen in unser Gemeinwesen einzubinden, die ihre Heimatländer aus den unterschiedlichsten Gründen verlassen haben oder verlassen mussten und bei uns eine neue Heimat gefunden haben. Wir tun gut daran, für sie die Zugänge zu Spracherwerb, Bildung und Arbeitsmarkt weiter zu verbessern. Denn davon wird es im Wesentlichen abhängen, ob sich die jüngste Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft bewahrheitet und die Zuwanderung geflüchteter Menschen einen positiven Effekt auf das Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik ausüben wird.

Eine kluge Integrationspolitik muss aber noch mehr leisten, als Integrationsangebote für Geflüchtete bereitzuhalten. Denn eine solche Politik sollte stets auch das große Ganze im Blick haben, und das heißt: die Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger. Nur dann wird es uns gelingen, den sozialen Zusammenhalt in Vielfalt und Diversität zu sichern und zu einer modernen Einwanderungsgesellschaft zu werden. Hier bleibt noch vieles zu tun.

Klar ist dabei auch: Integration ist kein konfliktfreier und harmonischer Prozess. Und doch bin ich voller Zuversicht, dass wir für die damit verbundenen Herausforderungen gut gerüstet sind. Wer, wenn nicht wir in Niedersachsen, wo wir reich sind an Erfahrungen bei der Aufnahme von Menschen aus anderen Ländern und Regionen – seit dem Ende des 2. Weltkriegs bis heute?

In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein gutes Gelingen bei den anstehenden Aufgaben und ein friedvolles Jahr 2017.

Ihre Doris Schröder-Köpf

(im Januar 2017)

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