„Es wird nicht still bleiben angesichts der weltweiten Fluchtbewegungen“: Rede der Landesbeauftragten im Niedersächsischen Landtag

In der heutigen (14.06.2017) Plenarsitzung hielt die Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe eine Rede zum Thema „Integration in die Gesellschaft durch Arbeit, Bildung und Familie“.

Es gilt das gesprochene Wort

 

Sehr geehrter Herr Präsident,

sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

„Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. (…) Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Gebär-den und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle.“

Sehr geehrte Damen und Herren,

diese Beschreibung stammt von einem der berühmtesten Flüchtlinge unseres Landes: von Hannah Arendt, nach der seit dem 2. April 2015 der Platz hier vor diesem Hohen Haus benannt ist. Die Philosophin und Politologin aus Hannover-Linden ist 1975 in New York gestorben, nie mehr ganz nach Deutsch-land zurückgekehrt.

Was Hannah Arendt 1943 aus eigener leidvoller Erfahrung beschrieb, hat eine geradezu erschreckende, zeitlose Gültigkeit. Sie flüchtete damals über den Atlantik in die Neue, eine damals bessere Welt.

Nur wenige hundert Meter von hier, im Niedersächsischen Landesmuseum, steht als Exponat im Rahmen einer Sonderausstellung derzeit das brüchige Symbol einer jüngeren Flucht: ein kleines hölzernes Schlepperboot, auf dem erst vor kurzer Zeit 80 Menschen auf geradezu wundersame Weise die Überfahrt übers Mittelmeer gelang.

Sehr geehrte Damen und Herren,

erst am vergangenen Wochenende wurden etwa 2850 Menschen von italienischen und internationalen Einsatzschiffen aus dem Mittelmeer gerettet. Seit Beginn diesen Jahres haben laut UN-HCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, von den etwa 72 000 Flüchtlingen mindestens 1700 die Überfahrt nicht überlebt, oder gelten als vermisst.

Es sind zumeist die Stärksten und Wohlhabendsten, die den gefährlichen Seeweg überhaupt versuchen – und ihn bezahlen können. Der sicherere Landweg ist ja versperrt.

Dazu schreibt Cordula Meyer im neuesten SPIEGEL, ich zitiere: „Statt Deutschland schlossen im März 2016 die südosteuropäischen Länder ihre Grenzen und damit die Balkanroute. Gleichzeitig handelte Merkel mit dem türkischen Präsidenten den EU-Flüchtlingsdeal aus. Die Drecksarbeit macht seitdem die Türkei für uns.“. Und sie kommt zu dem Ergebnis, Zitat: „Es ist bemerkenswert still in Deutschland angesichts dieses Leids!“

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bin sicher: Es wird nicht still bleiben angesichts der weltweiten Fluchtbewegungen, die in ihren Ausläufern ja durchaus auch derzeit Deutschland und Niedersachsen erreichen. Und deshalb ist es gut, dass wir hier und heute aufgrund des FDP-Antrags erneut über das Instrumentarium diskutieren, mit dem wir für die Geflüchteten von gestern, aber eben auch für morgen, die besten Voraussetzungen zur gelingenden Integration schaffen. Auch wenn die meisten der im Antrag benannten Vorschläge meines Erachtens durch Regierungshandeln erledigt sein dürften. Etwa bei der Vorrangprüfung, die wir in Niedersachsen bis zum 5. August 2019 ausgesetzt haben. Wir wissen ja, dass die Vorrangprüfung den Zugang zum Arbeitsmarkt für Geflüchtete verzögert, ohne ihn für heimische Kräfte zu er-leichtern.

Wir haben Vertrauen in die Unternehmerinnen und Unternehmer, selbst am besten beurteilen zu können, wen sie benötigen.

Wir haben auch Vertrauen, dass es gelingen wird, Vielfalt als Normalität zu begreifen und von ihr zu profitieren. Deshalb tun wir gut daran, auch bei der Suche nach guten Ideen Grenzen hinter uns zu lassen. Nur ein Beispiel: Laut der Zeitschrift „Internationale Politik“ können in Schweden Flüchtlinge, die in ihrem Heimatländern als Lehrkräfte tätig waren, Unterricht in ihrer Muttersprache erteilen. Parallel holen sie die Qualifizierung für das Lehramt nach. So schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe und schafft sozusagen Mehrwert für alle.

Sehr geehrte Damen und Herren,

lassen Sie uns kurz gemeinsam zurückblicken, um uns die Dimension des zurückliegenden Kraftaktes noch einmal vor Augen zu führen:

Seit unserem Regierungsantritt im Jahr 2013 wurden beinahe 172.000 Flüchtlinge neu in Niedersachsen registriert. In der gleichen Zeitspanne zuvor, zwischen 2008 und 2012, waren es nur 18.600.

Schon die Zahlen sind beeindruckend und doch vermögen sie nicht annähernd den weiten Weg zu beschreiben, den wir in diesen Jahren gemeinsam zurückgelegt haben. Die nachhaltigen Umbrüche hat der Gesellschaftsforscher Prof. Steven Vertovec vom Max-Planck-Institut in Göttingen als die „zweite Wende“ in der Geschichte der Bundes-republik bezeichnet.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Von der Bereitstellung von Schlaf- und Unterbringungsplätzen (in Hochzeiten beinahe 50.000) und der medizinischen Versorgung über flächendeckende Sprachförderangebote auf allen Bildungsebenen bis zu umfassenden Maßnahmenpaketen zur Arbeitsmarktintegration: Zusammen mit Kommunen und Kreisen, mit Vereinen, Verbänden, Kirchen und Unternehmen hat die Landesregierung Strukturen geschaffen, die einen erfolgreichen Integrationsprozess, wenn auch nicht garantieren, so doch einleiten und ermöglichen. In mehreren Ausschusssitzungen wurden die Mitglieder des Landestages in den vergangenen Monaten detailliert informiert. Ich werde aus Zeitgründen auf ei-ne Aufzählung verzichten.

Was zu diesen Jahren, die sicher in die Geschichtsbücher und das gesellschaftliche Gedächtnis eingehen werden, auch gehört, ist das Engagement der Menschen: all jener, die unserem Land von Emden bis Friedland ein freundliches Gesicht gegeben haben. Diese Bürgerinnen und Bürger waren und sind der „wunderbare Ausweis für die Reife unserer Demokratie“, wie es Martin Schulz kürzlich so schön ausdrückte.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wer sich mit Flucht und Geflüchteten beschäftigt, kann nicht an den politischen Grenzen eines Bundeslandes Halt machen. Auch nicht in Anträgen.

Deshalb bin ich bei Ihnen, wenn sie eine „schnelle Entscheidung über den Aufenthaltsstatus“ oder eine „Gewährleistung des Familiennachzuges für Aufenthaltsberechtigte“ fordern.

Ich stimme Ihnen auch zu, dass der Familiennachzug einen „erheblichen Beitrag zur Integrationsbereitschaft“ leisten kann. Wir wissen das hier in Niedersachsen doch von den Integrationserfolgen bei Aussiedlerinnen und Aus-siedlern, die in einer Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ganz eindeutig auch darauf zurückgeführt wurden, dass die Familien gemeinsam hier bei uns den Neuanfang machen konnten.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ein Eckpunktepapier des UN-Flüchtlingshilfswerks zur Bundestagswahl hat uns kürzlich noch einmal daran erinnert, dass wir keine Integrationserfolge von subsidiär schutzbedürftigen Menschen erwarten können, die „auf lange Zeit um das Wohl von Ehepartnern, Kindern und anderen Familienangehörigen im Heimatland oder auf der Flucht fürchten müssen“ .

Sozial- und Wohlfahrtsverbände haben besonders im Hinblick auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die derzeit ihre Eltern nicht nachholen können, scharfe Kritik geübt. Der Präsident der Diakonie in Deutschland, Ulrich Lilie, warnt gar vor einem „organisierten Scheitern der Integration“!

Diese Beschränkungen des Familien-nachzuges müssen fallen. Und ein modernes Einwanderungsrecht könnte et-was Druck aus dem Asylsystem nehmen.

Aber diesen politischen Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, werden sie nicht mit Frau Merkel, Herrn De Maizière und Herrn Seehofer hinkriegen.

Ihre Verbündeten in der Sache sitzen auf der linken Seite des Hauses. Auch im Bundestag. Wir sprechen wieder nach der Wahl im September!

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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